Factsheet: Effektivität und Effizienz von Heimerziehung in Baden-Württemberg
Hilfen zur Erziehung
Auch in Baden-Württemberg leben Familien unter ungleichen Bedingungen. Armutsbetroffenheit und weitere milieuspezifische Benachteiligungen, wie Bildungsferne, prägen das Aufwachsen vieler Kinder und Jugendlicher. Hilfen zur Erziehung kommen für alle Familien dann in Frage, wenn sie sozialpädagogische Unterstützung benötigen. Nach dem Gesetz ist das der Fall, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist“ (§ 27 SGB VIII). Anlässe für solche Alltagsprobleme und Konflikte können zum Beispiel Trennung oder Scheidung, Sucht- und psychische Erkrankungen, Gewalt oder Vernachlässigung sein.
Heimerziehung
In besonders schwierigen Ausgangslagen kommt Heimerziehung nach § 34 SGB VIII zum Einsatz. Damit sollen Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung nachhaltig gefördert werden.
Gründe für Heimerziehung
Die Aufnahmegründe sind vielfältig: Elternbezogen dominieren häusliche Konflikte und Erziehungsinkompetenz. Suchtprobleme, Missbrauch, psychische Erkrankungen und Ausfall zumindest eines Elternteils sind auch nicht selten. Bei den kindbezogenen Anlässen stehen aggressives und delinquentes Verhalten sowie Entwicklungsdefizite im Vordergrund.
Heimerziehung erzielt hohe Effekte
Investitionen in Heimerziehung zahlen sich aus: Sie bewirken auf individueller Ebene in folgenden Lebensbereichen messbare Veränderungen:
- Bildung und Erwerbstätigkeit:
- Junge Menschen werden in den Hilfen zur Erziehung intensiv in ihren Ausbildungs- und Bildungsverläufen unterstützt. Sie kommen besser mit der Schule oder Ausbildung insgesamt zurecht, können Lernschwierigkeiten bekämpfen, Klassenwiederholungen oder Schulabsentismus sind seltener, das Erreichen eines Schul- bzw. Ausbildungsabschlusses wird wahrscheinlicher.
- Auch die ersten Schritte bei der Aufnahme einer neuen Arbeitsstelle werden begleitet. Abbrüche können damit reduziert werden.
- Gesundheit: Auch durch die Kooperationen der Erziehungshilfen mit weiteren Systemen, wie der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wird dem Entstehen körperlicher sowie psychischer Erkrankungen präventiv begegnet bzw. dem Verschlimmern von (Folge-)Erkrankungen entgegengewirkt.
- Delinquenz: Diese jungen Menschen werden nicht sich selbst und „der Straße“ überlassen. Ein Abrutschen in Armut, Sucht und Kriminalität oder auch Radikalisierung kann oft erfolgreich verhindert werden. Sie geraten seltener in Konflikt mit der Justiz, weil sie andere Gestaltungs- und Bewältigungsmethoden erlernt und soziale Normen stärker verinnerlicht haben.
- Soziale Integration: Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe sind Sozialisationsorte und Orte der Demokratiebildung. Die jungen Menschen lernen hier, sich gegenseitig zuzuhören, andere Meinungen zu akzeptieren und zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen.
In Baden-Württemberg beträgt die Erfolgsquote für Heimerziehung 66,2 %. Dieser hohe Wert liegt signifikant über dem Bundesdurchschnitt von 60,9 %. „Erfolg“ bedeutet, dass am Ende der Hilfe Problemlagen reduziert, und Ressourcen, Kompetenzen und Schutzfaktoren der jungen Menschen gestärkt sind.
Volkswirtschaftlicher Nutzen: Heimerziehung lohnt sich!
Diese Wirksamkeit auf der individuellen Ebene führt zu einem zu erwartenden volkswirtschaftlichen und sozialen Nutzen:
- Bildung und Erwerbstätigkeit:
- Die intensive Schul- und Ausbildungsbegleitung in den stationären Wohngruppen schafft die Grundlage für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt. Dies sichert Mehreinnahmen durch Erwerbstätigkeit, wie steigende Steuer- und Sozialversicherungseinnahmen, und vermeidet Ausgaben aufgrund von Arbeitslosigkeit, wie hohe Transferleistungen.
- Erfolgreiche Schul- und Berufsbegleitungen, gerade von belasteten und benachteiligten jungen Menschen, sind in Zeiten massiven Fachkräftemangels notwendiger denn je.
- Auch die Gesundheitsausgaben können dadurch verringert werden.
- Die Folgekosten der Straffälligkeit von jungen Menschen werden verringert.
- Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Die Erziehungshilfen tragen grundlegend zu einem gelingenden sozialen gesellschaftlichen Miteinander bei. Sie stärken unsere Demokratie und wirken Radikalisierungstendenzen entgegen.
Daten des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ) zeigen, dass Heimerziehung in Baden-Württemberg überdurchschnittlich effektiv wie auch effizient ist: Jeder investierte Euro bringt über 2,40 Euro volkswirtschaftlichen Ertrag. Heimerziehung sorgt also dafür, dass individuelle Potentiale als solche erkannt und später gesellschaftlich genutzt werden können. Somit trägt sie zur Standortsicherheit der Wirtschaft in Kommunen, Land und Bund bei.
Kurzbiographie: Jaquelines Weg
Jaqueline, 19 Jahre alt, wuchs in einer schwäbischen Kleinstadt unter sehr schwierigen Familienverhältnissen auf. Ihre Mutter war Reichsbürgerin und lebte in „messihaften“ Strukturen, der Vater wurde übergriffig, tragische Umstände, die keine stabilen Ressourcen für ihre Entwicklung boten.
Früh kam Jaqueline in Pflegefamilien, wo sie sich stets bemühte, ihr Bestes zu geben. Doch auch dort fand sie langfristig keinen sicheren Platz. Schließlich lebte sie eine Zeit lang in einer Mädchenwohngruppe und wechselte danach ins Betreute Jugendwohnen. Dort konnte sie zur Ruhe kommen, neue Perspektiven entwickeln und ihre Stärken entfalten.
Mit viel Einsatz gelang es ihr, einen höheren Bildungsabschluss zu erreichen. Heute startet Jaqueline in eine Ausbildung beim Zoll. Ein Schritt, der ihr neue Stabilität, Selbstständigkeit und Zukunftschancen eröffnet. Zu ihrer Herkunftsfamilie hat sie keinen Kontakt mehr.
Vor allem an den Jugendhilfemaßnahmen ist Jaqueline gewachsen. Sie zeigen eindrucksvoll, was junge Menschen erreichen können, wenn sie Unterstützung, Vertrauen und Begleitung erhalten.
Quintessenz/Ausblick
Eine bedarfsgerechte Versorgung ist auch in Zeiten knapper Kassen unverzichtbar. Die Kinder von heute sind die Zukunft unserer Gesellschaft, die Basis für Wohlstand, Solidarität und Demokratie. Angesichts wachsenden Fachkräftemangels, zunehmender Spaltung und schrumpfender Aufstiegschancen ist eine professionelle und gut ausgestattete Jugendhilfe entscheidend – für jedes einzelne Kind und für unsere Gesellschaft insgesamt. Sie fördert Chancengerechtigkeit von Anfang an, stärkt Bildungserfolg sowie Arbeitsmarkt und macht Solidarität im Leben junger Menschen konkret erfahrbar. So trägt sie zu einem handlungsfähigen Staat und einer widerstandsfähigen Demokratie bei.
Gerade in Zeiten harter Verteilungskonflikte muss die Jugendhilfe deshalb Vorrang haben – als wirksame Prävention gegen individuelle Not, soziale Ungleichheit und gesellschaftliche Spaltung. Wer hier spart, gefährdet nicht nur junge Biografien, sondern auch die Stabilität unserer sozialen, wirtschaftlichen und demokratischen Ordnung.